Mittwoch, 8. September 2021

Fahren auf der Langstrecke - eine Trockenübung mit ABRP

Zu den grössten Anfangsschwierigkeiten auf dem Weg zur Elektromobilität gehört zweifellos die fehlende Vorstellungskraft bezüglich Reichweiten, Verbrauch und Zeitaufwand beim Laden speziell auf der Langstrecke. Der Verstand bemüht sich dann, aufgrund vergangener Erfahrungen 'hochzurechnen'. Leider sind diese irreführend. 😒 Daher soll dieser Artikel aufzeigen, wie man sich diesem Problem realistisch und mit eigenen Erfahrungen nähern kann. Erreicht wird dies mit einer Nachkalkulation. Soll heissen: ich überprüfe einen längeren Weg, den ich aus Erfahrung möglichst gut kenne, weil ich ihn -vorzugsweise öfter- schon mit dem Verbrenner gefahren bin. Dazu nutze ich ein geeignetes Planungsprogramm, dass es mir ermöglicht, mit realistischen Werten die Fahrzeit eines Elektrofahrzeuges inklusive Laden mit einer (mir aus Erfahrung bekannten) Verbrennerfahrzeit zu vergleichen.

Dies kann man gut als Simulation bzw. Trockenübung am heimischen Bildschirm machen, ohne sich weiter mit technischen Daten, theoretischen Verbrauchswerten oder irreführenden Ladezeitenhinweisen zu beschäftigen. Wie das genau geht, soll in diesem Artikel erklärt werden. 👈

Führend ist hier das Programm 'A better Route Planner' (ABRP, auch als App erhältlich). Man hat sehr viele Einstellmöglichkeiten, was das Programm sehr mächtig und flexibel macht, aber naturgemäss auch die Bedienung verkompliziert. Die wichtigsten Komponenten, die man vor der Navigation einstellen sollte, werden hier erläutert.


 (1) Auswahl des Fahrzeuges

ABRP hält eine Fahrzeugdatenbank vor, die mit realistischen Verbrauchs- und Batteriedaten hinterlegt ist. Im Grunde kann man nach Auswahl des Fahrzeuges sofort mit der Routenplanung beginnen. Für diesen speziellen Vergleich hier sollten aber noch weitere Sachen eingegeben werden. Weil viele Fahrzeuge mit mehreren Akkugrössen erhältlich sind, muss man bei solchen darauf achten, dass man die richtige Variante auswählt. ❗

(2) Referenzverbrauch

Dieser wird in ABRP nach Auswahl des Fahrzeuges zunächst automatisch hinterlegt und ist im Allgemeinen realistisch. Man kann die Kriterien noch ergänzen, indem man z.B. höhere/niedrigere Geschwindigkeiten oder Zusatzgewichte eingibt. ABRP wird dann den Referenzverbrauch anpassen. Hinweis: die Verbräuche auf 100 km werden normalerweise in kWh angegeben, ABRP rechnet in Wattstunden Wh. Die Umrechnung ist aber sehr einfach: 229 Wh wie in diesem Beispiel im Bild sind 22,9 kWh. Man muss bei Anpassung nur aufpassen, der Verbrauch muss immer dreistellig sein.

Dann ist man mit den Grundeinstellungen auch schon fertig und kann mit der eigentlichen Navigation beginnen. 👍

(2) Akkustand (SoC) bei Abfahrt

Üblicherweise wird man den Akku vor einer längeren Tour auf 100% aufladen. ABRP gibt 99% vor, man kann zu Planungszwecken aber auch jeden anderen Wert nehmen. Im Bild oben sind es z.B. 80%. Der Ladestand wird in ABRP übrigens englisch SoC (State of Charge) genannt.

(3) Akkustand für Nachladen

Hier legt man fest, mit wieviel Restladung man an einem Lader ankommen möchte. Man muss einen Kompromiss finden zwischen schnellstem Laden (sehr niedrig) und Vorsicht (höher). Empfehlenswert sind anfangs so um die 15-20% Rest, mit steigender Erfahrung wird man von alleine mutiger. 10% oder sogar weniger sind dann möglich. 😈

(4) Akkustand Ziel

Was hier eingetragen wird, hängt von den Ladeverhältnissen am Ziel ab. Ich habe eine Steckdose am Ziel und übernachte? Dann reicht theoretisch 1% Rest plus Vorsichtsbonus. Ich will am Ziel nur einchecken und dann noch ein paar Kilometer fahren? Oder dort ist kein Lader? Dann sind vielleicht 25-30% besser.


Das war es, es kann losgehen mit der Navigation. Das Programm wirft nun eine Liste mit sämtlichen Ladepunkten aus.

In diesem Fall wird auf meiner Strecke nach Flensburg ein Ladestopp ausgeworfen. Man kann aus diesem Plan folgende Informationen entnehmen:

- Ein Ladestopp ist Pflicht, auch mit 100% am Anfang ist die Strecke bei 22,9 kWh Verbrauch nicht zu bewältigen - wenn ich mit 30% Rest ankommen will.

- Bedingt durch die Vorgabe, am Ende mit 30% anzukommen, dauert der Ladestopp mit 30 Minuten vergleichsweise lange. Es müssen hierfür 63% (14-77) nachgeladen werden.

- Beim Ladestopp habe ich noch 14% im Akku. Das sind auf der Autobahn (24/58x0,14) etwa 35 km. Innerhalb dieser Strecke gibt es keine weiteren Lader! Das kann ein Problem sein, wenn die Säulen belegt oder ausgefallen sind. Das muss jeder für sich nach Risikoneigung entscheiden (ein Blick auf Brokenlande zeigt in diesem Fall aber, dass dort mehrere Ionity und E.On-Lader stehen).

 - Ohne Bild: wenn ich die Vorgabe auf z.B. 20% Rest ändere (das wären dann in der Stadt immer noch etwa 60 km Reichweite) verkürzt sich der Stopp auf 24 Minuten.

- Man kann das noch weitergehend beeinflussen, wenn man z.B. einzelne Ladenetze oder Haltepunkte ausschliesst oder aber Strecken bevorzugt. Das Programm ist wie gesagt ziemlich mächtig.

- Mein ID.3 verbraucht übrigens in der Regel weniger als die hier angenommenen 22,9 kWh. Allerdings sind in diesem Fall etwa 250 der 300 km Autobahn und es sollten Fahrräder mitgenommen werden. So etwas muss man dann schon ins Kalkül ziehen. 👆 Details dazu kommen noch in weiteren Posts.

- Wer über die Anschaffung eines Elektrofahrzeuges nachdenkt und absolut keine Idee bezüglich des Verbrauches hat, kann hier suchen: https://www.spritmonitor.de/ Einfach das entsprechende Modell auswählen und man bekommt einen ganz guten Überblick über tatsächliche Verbräuche im Alltag.

Zum Schluss noch ein kurzer Abriss: warum gibt es solche Programme überhaupt? Mittlerweile sind doch die meisten Fahrzeuge am Markt mit Navigationssystemen ausgerüstet, die Ladestopps berücksichtigen. Antwort: leider sind die aber (noch) in vielen Fällen nicht optimal. Grund ist in den meisten Fällen die mangelnde Erfahrung der klassischen Autohersteller mit Software (Tesla ist auch auch hier führend). Klassiker sind zu frühe oder späte Stopps, Führung zu Langsamladern, Unkenntnis der Systeme bezüglich Auslastung oder Funktionsfähigkeit des angefahrenen Ladepunktes.

Dazu kommt, dass das Netz als Ganzes noch im Aufbau ist. Zwar sind mittlerweile an den weitaus meisten Autobahnraststätten mit Tankstelle auch Ladestationen aufgestellt, aber eben nicht überall. Und da die Abstände zwischen den Stationen oft um die 50 km betragen, darf man sich hier keine groben Schnitzer erlauben, wenn man nicht am Ende von der Autobahn ab- und zu einem Langsamlader fahren will, was einen doppelten Zeitverlust bedeuten würde. Hier sind die Navigationsgeräte ebenfalls hinten dran, weil sie in viel grösseren Abständen upgedatet werden als die Datenbanken von Apps wie ABRP. Auch hier gilt: Ausnahme Tesla.


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